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2010/05/14

Die Fremden singen

Filed under: Europa,Immigration,Literatur,Soziales — dienagashi @ 19:34

Wäre das kleine Herrenvolk nicht bei sich selbst berühmt für seine Humanität und Toleranz und so weiter, man könnte sie in ordentlichen Lagern unterbringen, wo sie auch singen dürften, und sie würden nicht das Straßenbild überfremden.

– schrieb dies Max Frisch im Jahre 1965 unter dem Titel:  Überfremdung als  Vorwort zum Film-Buch Siamo italiani – Die Italiener -Gespräche mit italienischen Gastarbeitern von Alexander J. Seiler.

Max Frisch war seiner Zeit weit voraus und er hatte Recht.

Überfremdung ist mittlerweile nicht  „nur“ schweizerisches Phänomen, es ist zum europaweites Bedrohung angewachsen und sorgt überall für Diskussionen. Es werden in ganz Europa insbesondere in Wahlkampfzeiten mit der Thema Migration/Integration  Ängste geschürt, mit Verboten, wie Minarett – und Burkaverbot wird negative Stimmung gegen Minderheiten erzeugt und verschärft. Der Unterschied zu den 60er ist ein wirtschaftlicher, Frisch schrieb:

Es herrscht Konjunktur, aber kein Entzücken im Lande. Die Fremden singen.

Wir haben längst die Krise, und von Entzücken weit und breit keine Rede. Es herrscht soziale Kälte und  trifft es diesmal auch, wie so oft, die Randgruppen und die Migrant_innen am härtesten. Und damit schließt sich der Kreis über den „seltsamen Menschenschlag“ welche

eigentlich sehr demütig, naiv, nicht untertänig und nicht knechtisch, aber auch nicht arrogant, nur nicht auf Demütigung gefasst, übrigens wenig nationalistisch, noch in der Diaspora, nicht machtsüchtig, lebensgläubig wie Kinder erschrecken viele über den Schnee im fremden Land und brauchen lange Zeit, bis sie merken, welcher Art die Kälte ist, die sie erschreckt.

2010/05/08

doch wird aus neuem Stein die neue Welt

Filed under: 8.Mai,Geschichte,Literatur — dienagashi @ 02:04

Kein Blick zurück, kein Zauber

Wie in des Apfels Kernhaus der braune Kern, so schwoll
bis jetzt in meinem Herzen all der geheime Groll,
ich wußte, ein Schwert-Engel geht mit in meinem Rücken,
paßt auf und schützt mich notfalls vor Widrigkeit und Tücken.
Wer eines wilden Morgens jedoch erwacht darüber,
daß alles eingestürzt ist, sich aufmacht wie ein trüber
Spuk, weg von seinem Krimskram, und ist mehr nackt als nicht,
in dessen schönem Herzen mit leichten Sohlen bricht
nachdenklich, reif und wortkarg die Demut auf, geläutert,
empört er sich und meutert, dann nicht mehr seinetwegen,
dem Fernglanz freier Zukunft eilt er nun schon entgegen.

Ich hatte nichts, und nichts mehr wird mir gehören, kein
Besitz, im reichen Leben ein Weilchen Träumer sein
genüge, hier, nicht Zorn mehr, nicht Rache fällt mir ein,
wird mein Gedicht verboten, – doch wird aus neuem Stein
die neue Welt, ihr klingt dann im Fundament mein Wort,
was hinter mir liegt, lebe ich schon inwendig fort,
ich schaue nicht mehr rückwärts, wohl wissend, mich behütet
kein Blick zurück, kein Zauber, – ein Unheilsmittel brütet
ob mir, winkt ab, Freund, kehr mir den Rücken, sieh nicht her.
Jetzt ist, wo einst Engel mit dem Schwert stand,
vielleicht gar niemand mehr.

30. April 1944

Miklós Radnóti schrieb am 30. April 1944 das Gedicht in sein Notizbuch Bori notesz (Notizen aus Bor)
Er sehnte sich bis zuletzt dem Fernglanz freier Zukunft entgegen.

Heute begehen wir zum 65. Mal den Tag der Befreiung, das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa.
Wir sollten jeden Tag aufs Neue bewusst die freie Gegenwart leben!

Er starb am 9. November ’44 in Bor, wo jetzt seine Statue steht, ohne Sockel, auf der Erde..

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